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Von Männern und Kindern

Ihr Lieben,

 

die Themen, die mich in den letzten Wochen am meisten beschäftigt haben, sind das aktuelle Rollenbild des Mannes und verhaltensauffällige Kinder. Ich fange mit den Kindern an. Nicht, weil man immer mit den Kindern anfangen sollte, bzw. die immer Vorrang haben, sondern weil sich aus dem Thema irgendwie alles ableitet.

Marlo hat ADHS. Das sagt die Psychologin. Woher sie das weiß? Wir waren mit Marlo da, haben ihr unsere Situation geschildert. Dann hat sie 10 Minuten mit ihm alleine gespielt. Danach war ich für eine Stunde mit ihm bei einer Ergotherapeutin und dann noch 2 Stunden bei einer Dame aus der Psychologen-Praxis, deren Namen ich bis heute nicht kenne, da sie sich nie vorgestellt hat. Sie hat mit Marlo Konzentrationstest gemacht. 2 Stunden lang. Danach wussten die, dass er in vielen Dingen sehr weit ist, in manchen nicht. Außerdem ist er zappelig, unkonzentriert und nicht sehr selbstbewusst Neuem gegenüber. Bei den Test war er auch wirklich maximal auffällig. Er wollte auf meinen Schoß, wollte nicht, dass ich gehe, hampelte auf dem Stuhl und Tisch herum, vergrub sein Gesicht in meinem Arm. Im Nachhinein wundere ich mich darüber aber nicht. Eine wildfremde Frau wollte ihn aus dem Wartezimmer abholen, alleine. Natürlich klappt das mit einem 4 Jährigen erstmal nicht. Dann sollte er auf einem Stuhl sitzen und sich dämliche Aufgaben abfragen lassen, ohne zu wissen, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel. Wie hätte ich als Erwachsene diese Situation wohl empfunden? 

 

Jetzt stehen wir da, mit dieser Diagnose, und sind so weit wie vorher. Weil alles, was ich über ADHS gefunden und gelesen habe, passt irgendwie nicht so richtig zu unserem Kind. Marlo soll jetzt Ergotherapie bekommen. Allerdings gibt es dafür momentan keine freien Therapieplätze. Dann haben wir noch 2 Broschüren von einem Pharmahersteller erhalten. Das war’s. Anfangs habe ich mich fürchterlich aufgeregt. Die Diagnose konnte ich so nicht akzeptieren. Aber ich weiß, irgendwas rumort in Marlo und wir wissen nicht, wie wir ihm helfen können. Das dachte ich bisher. Bis mir die Tagesmutter, eigentlich wegen Minas neuerwachtem Willen, alle Grenzen auszutesten, ein Buch von Jesper Juul gab. 

 

Natürlich kannte ich den schon, aber ich habe mir nie ein Buch von ihm gekauft oder durchgelesen. Er tauchte aber im Geburtshaus oft in Unterlagen auf und im Internet wird er auch häufig erwähnt. Jesper Juul ist eigentlich ganz simpel. Er sagt, dass du auf eine gesunde Paarbeziehung achten musst und darauf, authentisch zu sein. Alles andere passiert dann von alleine. Begegne deinem Kind auf Augenhöhe und akzeptiere, dass es ist, wie es ist. Klingt voll einfach, oder? Er entromantisiert das Elternsein aber auch ganz direkt. Er sagt Eltern, die sich nach etwas sehnen, dass ihnen ihr Kind nicht geben kann auch schon einmal, das sie vermutlich 15 unharmonische Jahre vor sich haben, weil sie mit einem autonomen Kind zusammen leben, das ein Einzelgänger ist. Ich finde das schockierend und unheimlich erleichternd zugleich. Ich habe mir das Hörbuch “Elterncoaching - Gelassen erziehen” geholt. Dafür wurden Elterngespräche aufgezeichnet und wiedergegeben. Das ist wunderbar. Jeder Fall ist anders, jedes Kind verhält sich anders. Alle haben irgendetwas mit Mina und Marlo gemeinsam und alle konnten ihr Verhalten ändern, nachdem sie bei Jesper Juul waren. Allen Eltern sagt er im Prinzip dasselbe: Setzt euch mit dem Kind auseinander. Redet mit ihm wie mit einem Erwachsenen. Seid authentisch und achtet dabei darauf, das es euch gut geht und ihr als Paar und Eltern nicht auf der Strecke bleibt, weil sich das in den Kindern sofort widerspiegelt. Natürlich gibt es zu jedem Kind auch eine individuelle Idee und Ratschläge, aber das was ich bisher rausgezogen habe, ist: Du bist auf einem richtigen Weg, schon die ganze Zeit, und dein Kind kann haben, was es will, es spielt keine Rolle, weil du musst es, so wie es ist, ernst nehmen, annehmen und akzeptieren, dass es ist, wie es ist. Voll die schwere Aufgabe, obwohl es das Selbstverständlichste auf der Welt sein sollte. Man hat schließlich ein Individuum geboren und kein Kaninchen. 

 

Ich bin jetzt froh, dass wir mit Marlo immer so gesprochen haben, wie mit einem kleinen Erwachsenen. Mit allen unseren Kindern. Das war uns wichtig. Und ich bin auch froh, dass ich mich offen mit ihm gestritten habe. Ich weiß, das ich noch daran arbeiten muss, nach Streitgesprächen, wenn sich alles wieder beruhigt hat, nochmal über die Situation zu sprechen, um die Gefühle von meinem Kind besser einordnen zu können. Ich muss ihn einfach besser kennenlernen. Aber ich bin beruhigt, weil ich jetzt wieder weiß, Kinder erziehen ist nicht immer harmonisch, und soll es auch nicht sein, weil sich das Kind sonst gar nicht sozialkompetent entwickeln kann.

Und wenn man mit den Kindern über die offenkundigen Probleme spricht, dann bekommt man von denen oft erstaunliche Antworten. Moritz wollte neulich zum Beispiel von Marlo wissen, was sie machen können, damit sie morgens nicht immer streiten. Da hat er gesagt, das weiß er nicht, er sei ja kein Einfallspinsel :-D

Moritz hat gefragt, ob er weiß, was das ist, ein Einfaltspinsel. Marlos Antwort: Wicki ist ein Einfallspinsel. Wicki ist, by the way, super was Gleichberechtigung angeht. Da gibt es zwar auch klare Rollenverteilungen, aber die Männer müssen unter anderem auf neugeborene Babys aufpassen und damit klar kommen. Und Wicki muss nicht stark sein, nur weil er ein Junge ist, er kann einfach schlau sein und Dinge anders machen als die anderen und dennoch ans Ziel kommen. 

 

Es gab noch eine lustige Situation, die Moritz mit Marlo hatte. Während eines Wutanfalls bat Moritz darum, dass er sich wieder beruhigt. Aber Marlo hat gesagt, das versucht er ja, aber er kann nicht, weil er hat einen Wackelkontakt, wie seine Einhorn-Nachtleuchte. Also eigentlich ist dieses Kind schon sehr reflektiert und kann sich wunderbar mit Worten ausdrücken. Aber innerlich ist er oft unsicher und aufbrausend. Er ist sensibel und zurückhaltend. Aber auch wild und fordernd. Er benötigt Grenzen und jemand, der ihn schüttelt, wenn er einen Wackelkontakt hat, damit er wieder leuchten kann. Aber ich denke, er wird immer diese beiden Kräfte in sich haben. Das Ruhige und das Laute. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, das immer richtig zu dosieren und in unserer Gesellschaft gleichmäßig zu verteilen. Kinder unterliegen auch ständiger Überwachung. Dauernd passt jemand auf sie auf. Natürlich auch, weil sie Gefahren noch nicht richtig einschätzen können und sie gerne experimentieren. Aber stell dir das mal vor! Immer ist jemand da, der dich kontrolliert. Immer ist jemand da, von dem du weißt, dass er dir Regeln vorgegeben hat, die du befolgen sollst. Auch wenn du dazu nicht immer Lust hast. Immer ist jemand da, der bestimmt, wann es Essen gibt, wann Zähne geputzt werden, wann es ins Bett geht. Ich würde durchdrehen. Selbstbestimmt zu sein ist schließlich eine der größten Freiheiten, die man sich erkämpfen kann! Deswegen lass ich mein Kind jetzt in Ruhe, versuche für ihn da zu sein, so wie er es benötigt, sage ihm, was für mich nicht in Ordnung ist und warum, frage ihn, wie wir es zusammen besser machen können, lass ihn wütend sein, streite mit ihm, helfe ihm beim Vertragen und liebe meinen Mann und mich selber und meine Kinder und sage ihnen und mir das auch, damit wir es nicht vergessen. 

 

Nächstes Thema: Der Mann und das Jetzt.

Neulich war ich bei einer Freundin in Hamburg und habe dort Nachts Männer angesprochen und gefragt, was für sie typisch männlich ist. Kein einziger der jungen Männer, bis ca. 35 Jahren, konnte dazu mehr sagen als: Gibt es nicht! Bei typisch weiblich gab es oft noch so etwas wie: Kinder bekommen, Geborgenheit oder Wärme. Aber auch da gab es wenig Definitionen. Bei den älteren Männern, um die 50-60 Jahre, kamen immer konkrete Antworten. Leider kann ich mich daran nicht mehr so gut erinnern, das war morgens um 6 auf’m Fischmarkt. Aber zwei Sachen zur Weiblichkeit weiß ich noch: Aufgeregt und Periode. Und was ich noch ganz genau weiß ist die Antwort auf die nächste Frage. 

Typisch männlicher Kleidungsstil: Gibt es nicht. 

Typisch weiblicher Kleidungsstil: Rock. 

Das ist eine 100%-Auswertung. Alle haben das geantwortet. Ich habe einem Mann erzählt, dass mein Mann früher öfters einen Rock trug und er wollte wissen, weshalb. Später erzählte er dann, sein Vater ist Inder und trägt zuhause immer einen Rock. Aber er würde ihn nie auf der Straße tragen. Da wollte ich wissen, warum. Die Antwort: Das macht man als Mann nicht und es wäre ja auch doof, wenn alle gleich rumlaufen würden! Da habe ich zugestimmt, das wäre ziemlich langweilig. Aber das ist eigentlich eher ein Argument dafür, dass Männer endlich auch anziehen dürfen, was sie wollen, dann müssen sie nicht immer nur Hosen tragen. Frauen haben sich das alles bereits erkämpft. Hosen tragen, Bagger fahren, Fussball spielen, im Vorstand sitzen, gesunde Ernährung, arbeiten, wählen gehen, selbstbestimmt sein, Abtreibung, Mutterschutz, Auto fahren, ungeschminkt sein, Karriere machen, usw. Der Mann musste sich eigentlich nie was erkämpfen. Der war einfach. Er wurde. Und war selbstverständlich. Seine Rolle war, zu sein. Oberhaupt, Ernährer, Soldat, Arbeiter, Politiker, Held, im Recht, stärker. Aber jetzt funktioniert das nicht mehr. Und jetzt, als Eltern, fällt uns langsam auf, dass es auch nicht so schlau war, das immer so aufzuteilen. Weil jetzt verdient die Frau zu wenig, was den Mann dazu zwingt, auf Elternzeit zu verzichten, weil sich die Familie diese Auszeit nicht leisten kann. Und es rächt sich, das er sich nie für Vaterschutz eingesetzt hat und er deswegen nach der Geburt des Kindes seinen Jahresurlaub nehmen muss oder schon einen ersten Teil der Elternzeit, um für die Wochenbettbetreuung zu sorgen. Männer wollen nämlich gerne für ihre Kinder da sein und sie aufwachsen sehen, aber sind in einer Rolle gefangen, die sie zu wenig bekämpfen. Das müssen wir meiner Meinung nach ändern. Das muss der Mann ändern, sowie die Frau für sich viele Dinge erkämpft hat. Und dieser Weg ist auch noch längst nicht bis zum Ende abgeschritten. Aber da ist einiges los. Wenn man sich umschaut, wird man momentan überschüttet mit dem Thema. Ich bin also ganz zuversichtlich. 

Es gibt auch immer mehr Bücher für Kinder, die über Jungs beim Puppenspielen sprechen. Ich freue mich darauf und darüber, dass ich das aktiv mitgestalten kann. Und dazu passt auch etwas, das Jesper Juul gesagt hat. Wir sind die Generation Eltern, die als erste überhaupt versucht, ihre Elternrolle von innen heraus zu entwickeln - ausgehend von ihren eigenen Gefühlen und Werten -, weil es keinen kulturellen oder sachlich begründeten Konsens mehr gibt, auf den wir zurückgreifen können. Das ist keine leichte Aufgabe, aber sie ist wunderbar und spannend und befreiend. Wir können etwas Neues mitgestalten, etwas, das allen gerecht werden kann, einfach deswegen, weil, so unterschiedlich die Menschen auch sind, wir am Ende doch eigentlich nur das Eine wollen: geliebt werden und akzeptiert sein! 

 

Deswegen: liebt Euch! 

 

Eure MadEleine

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